Fragen der Größe nähert man sich am besten von oben. Aus der 500-km-Perspektive nur wenige blaue Flecken. Der Bodensee misst sich mit seinen europäischen Kollegen, dem Genfer See oder dem Plattensee. Dieser Wettstreit im Seen-Memory ändert sich die nächsten paar hundert Kilometer nicht, die man mit dem satellitengesteuerten Web-Flugzeug auf Deutschland herunterschwebt. Erst ab 25 Höhenkilometer blinkt es blau ...
Fragen der Größe nähert man sich am besten von oben. Aus der 500-km-Perspektive nur wenige blaue Flecken. Der Bodensee misst sich mit seinen europäischen Kollegen, dem Genfer See oder dem Plattensee. Dieser Wettstreit im Seen-Memory ändert sich die nächsten paar hundert Kilometer nicht, die man mit dem satellitengesteuerten Web-Flugzeug auf Deutschland herunterschwebt. Erst ab 25 Höhenkilometer blinkt es blau auf den Karten von Google oder Microsoft: die Müritzer Seenplatte schiebt sich zuerst ins Bild, dann folgen Chiemsee und Ammersee und der Fleck südlich von Hannover entpuppt sich als Steinhuder
Ansicht des Geiseltalsee
Meer. Und da – ein wenig hinuntertrudeln noch, aber eine Ahnung hat man schon, der Geiseltalsee: größer als alle anderen Tagebauseen in der Region, ja sogar der größte künstliche See Deutschlands. Vier Mal größer als der Cospudener See, hat der Geiseltalsee die Goitzsche bei Bitterfeld als größten See der Region abgehängt. Der Große Wannsee von Berlin passt beinahe sieben Mal hinein. Der lag allerdings quasi immer schon im Süden von Berlin. Diese Standorthoheit muss sich der gerade erst zur Nutzung freigegebene Geiseltalsee im Landkreis Merseburg-Querfurt noch erarbeiten.
Nach den Baggern kamen die Paddler
Fragen der Schönheit nähert man sich am besten historisch: Auf der Autofahrt von Leipzig nach Mücheln – eine angenehm knappe
halbe Stunde über die A38 – vergegenwärtige ich mir den großen Wandel dieser Region: 300 Jahre herrschte hier das Braunkohlerevier.
Man ahnt, dass mit den großen Maschinen vor allem im 20. Jahrhundert auch die große Hässlichkeit kam. „Dreckige Erde“ nannten sie die Braunkohle hier. Ersetzt man Erde mit Scholle oder gar Heimat, klingt das schon fast verzweifelt. Nach der Stilllegung 1993 mussten die Menschen noch mal zehn lange Jahre warten, bis die Flutung der Mondlandschaft begann. Zehn Jahre: das ist eine ganze Jugend, manchmal eine ganze Ehe. Und auch die Freigabe war eine schwere Geburt. In Kürze wird er teilweise freigegeben:
Dann endlich dürfen in der Marina Mücheln Boote ankern, auf dem Campingplatz bei Stöbnitz Zelte und Wohnwagen
residieren. Und auf einer Uferlänge von 5 Kilometern kann man endlich auch baden.
Empfindsames Zeichen der Hoffnung
Radfahrer um den See
Wir fahren durch Braunstedt, wo der zweite Hafen schon in Planung ist. Vorerst begrüßen uns leicht angegilbte Plakate von Kneipen,
Wohnanlagen und Ausflugszielen. Wer viel durch den Osten gereist ist, erkennt diese empfindsamen Zeichen der Hoffnung wieder: Zu
schwach für einen kritischen Diskurs und – gerade deshalb – so wichtig. Die Zukunft keimt zwischen schon neuen und noch alten
Häusern. Zahlreiche Publikationen und Broschüren zeugen vom Engagement der Anrainer. Ein Weinberg und über 250 teils seltene
Tierarten bevölkern das rund 800 Hektar große Areal um den 18 Quadratkilometer großen See. Den Radwanderweg entdecken wir
schnell: Skater, Radler und Jogger nutzen den kantenlosen Asphalt.
Nur ein bisschen steil und eng sei es an einigen Stellen, sagen zwei Männer uns später. Sie fahren vor der Sportschau schnell mal die 30 Kilometer um den See. Wir steuern die Marina Mücheln an, den seit 2008 in Betrieb befindlichen Hafen mit Café und Infocenter. Ein bisschen ist es wie im Urlaub: wenn nach dem Straßengrau plötzlich das Blau dominiert. Am Ende einer kurvigen Straße blitzt das Wasser keck durch noch junge Wipfel. Blau – sattes Blau, tiefes Blau, ein Blau, das Weite verspricht.
Die Regel von der Absorption des Wassers besagt: Je tiefer das Gewässer und je heller das Licht, desto blauer die Farbe. Der Geiseltalsee ist knapp 80 Meter tief. Zum Vergleich: die Ostsee ist 100 Kilometer vom Strand entfernt erst 60 Meter tief. Der Geiseltalsee ist selbst tiefer als der Stechlinsee, der tiefste natürliche See Ostdeutschlands.
In Garzweiler nahe Mönchengladbach soll ab 2045 ein noch viel größerer Tagebausee entstehen und er wird unglaubliche
180 Meter tief sein. Ich stelle mir vor, dass in einigen Jahrhunderten die Menschen alle Löcher, die sie gegraben hatten,
mit Ozeanblau gefüllt haben. Dann sieht die Erde aus 500 Kilometer Entfernung vielleicht auch aus wie der Mond: ein blaulöchriger
Käse, in dem jeder ein Boot, jeder seinen eigenen Strandplatz hat.
20 von 45 Tagebauseen in Mitteldeutschland
Das Gesetz schreibt vor, dass geschlossene Abrisshalden rekultiviert werden müssen. Wollte die DDR-Regierung aus dem Loch im
Geiseltal noch einen Wasserspeicher machen, war schon 1991 klar, dass die Region diese Chance weitaus größer
begreift: als Touristenmagnet. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Geiseltalsee derzeit der größte künstliche See Deutschlands ist. Es ist eine Frage, die ich während meines Aufenthaltes nicht beantworten kann: Ob ein Superlativ, den man ja mit dem menschlichen
Auge gar nicht überblickt, zum Erleben beiträgt.
Vögel am GeiseltalseeFühlt man sich zum Beispiel an einem Atlantikstrand erhabener als an der Ostsee? Oder genügt einem das Atlantikhafte an
manchen Ostseetagen? Wir versuchen im Verlauf dieses Tages mehrfach den See mit den Augen zu umfassen. Das ist nicht leicht: Der See bestand einst aus drei kleinen Gewässern und er windet sich ein bisschen bodenseehaft in die Kanten der alten Halde. Und, ja, er ist wirklich groß. Unser Gefühl, dreißig Minuten von Zuhause entfernt an einer an einer windigen, kargen, ja meerhaft wirkenden Küste sich zu erholen, streitet sich mit der Erwartung an die Natur. An einigen Stellen ist sie schon fertig, etwa wenn man hinter dem
Campingplatz den Berg hinausläuft und einem Waldweg folgend unendlich viele Vögel hört und sieht, auch alte Pappelhaine.
An anderen hat sie noch Glatzen. Andererseits: wirkt die Ostsee nicht auch umso atlantischer, umso näher sie bei uns liegt?
Der Geiseltalsee ist erfrischend nah. Sein Wasser ist wunderbar blau. Und die Natur um ihn wird ihrer ureigenen Aufgabenachkommen und weiter wachsen.
Mit freundlicher Abdruckgenehmigung vom REGJO Verlag. Erschienen am 4. Juli 2012 im Regjo Magazin Leipzig Ausgabe 02/2012:, S. 60/61. http://issuu.com/regjo-leipzig/docs/regjo_2_2012_web_neu
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