5 Themen, denen wir 2023 nicht entkommen

Ein Moment des Innehaltens ist der Jahreswechsel ja doch. Zeit für mich, die im Alltag die großen Debatten im Blick haben muss (und will), zu überlegen, welche Themen wohl die (mediale) Auseinandersetzung prägen. 
Heute, am 3. Januar 2023, beginnt mein Jahr. Die Polykrisen setzen sich fort, aber langsam schälen sich die wesentlichen Themen und Debatten heraus. Meiner Meinung sind dies die wichtigsten fünf Themen, mit denen wir es in der (medialen) Auseinandersetzung zu tun bekommen - wenig Neues, aber wir kommen hie und da endlich zum Punkt:

Die Durchsetzung der Nachhaltigkeit:

Es geht jetzt um konkrete Cases für ein Wirtschaften in der klimaneutralen Welt, deren Wettbewerb längst eröffnet ist, Europa vs. USA vs. China. Es wird sich auf Berater:innen-Seite auch die Spreu vom Weizen trennen in Sachen CSR/ESG. Die ideologisch aufgeladene Debatte um die Frage des "besseren" Verhaltens ist zwar noch nicht gelöst (siehe Hans Werner Sinn, der größte der sieben kleinen Zwerge: Atomkraft vs. erneuerbare), aber dieses legale Ringen ums beste "Wie" ist ein Meiler... sorry, Meilenstein im Ringen um eine neue Klimapolitik.


Die Funktion des
Staats

Großen Raum wird dieses Jahr die Frage einnehmen "Wie viel Staat" erlaubt sei(n muss). In den Mikrodebatten um Gendern, Impfflicht, Gaspreisbremse haben sich die Lager positioniert und dieser Kampf wird, so meine Einschätzung, dieses Jahr noch schriller und lauter. 

Treiber sind:

  • die konkrete Frage nach sozialem Ausgleich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten (soziale Gerechtigkeit vs. Liberalismus)
  • die systemische Frage nach dem passenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in der neuen fragilen Weltordnung (Regionalismus vs. Globalismus, Kreislaufwirtschaft vs. Kapitalismus, Gemeinwohl vs. Selbstbestimmung)
  • das zugrundeliegende politische Menschenbild jedes Einzelnen und jeder Gruppierung (ein Thema, dem ich mich in einem eigenen Beitrag widmen werde, mein Wissen dazu ist etwas erodiert)
Was hätte Platon wohl mit den Querdenkern gemacht? Aber, nun ja, die Polis von früher war nicht für jedermensch bestimmt. Da sind wir weiter. Prinzipiell. Von Raffael - d:Q186953, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14318

I Ich wohne in Sachsen, nolens volens fühlt man sich hier im Zentrum des Geschehens einer Auseinandersetzung um eine immer lauter geführte Gestaltungsmacht des Staats. Gerade in Äußerungen sächsischer Prominenz wie dem Schriftsteller Tellkamp treten die ideologischen Muster hinter den Anti-Staats-Demonstrationen deutlich zutage. Das Sachbuch "Gekränkte Freiheit" über den libertären Autoritarismus (Deutschlandfunk bespricht es hier) liegt als nächstes auf meinem Nachttisch, und ich bin mir sicher, ich erkenne viele zeitgeistige Phänomene um mich herum (räumlich, virtuell) wieder. Während die Querdenker-Proteste sich aus der Stimmungsmache gegen den Staat speisen, wird auf Bundesebene fieberhaft überlegt, wie die Grenzkosten eines sozialen und offensiv demokratischen Staates finanziert werden können. Welches System wird sich durchsetzen? Die soziale Marktwirtschaft, für die Deutschland lange bewundert worden ist (Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, soziale Sicherungssysteme mit hochkompetitiver Wirtschaft), ist auf jeden Fall in großer Gefahr, was AUCH daran liegt, dass die heutigen Zeiten Tatenkraft, nicht Beständigkeit fordern, und dabei sind andere Systeme besser.

E

Etwa das "skandinavische Modell" (starker Staat, Sicherheit für Bürger im Tausch gegen individualistische Ziele und Rechte) oder das "marktliberale Modell" (schwacher Staat, Individualismus vor Sicherheit). Da der Marktliberalismus viel Elend produzieren kann (schauen wir nach Großbritannien, bei der ein heruntergewirtschaftetes öffentliches Gesundheitssystem derzeit wöchentlich bis zu 500 Tote verursacht - schlicht aufgrund mangelnder Behandlung. Fehlend, nicht falscher.) und wir lange Grund hatten, stolz zu sein auf unsereren sozialen Frieden, der vielen einen Haus-und-Auto-bescheidenen Wohlstand beschert hat, sind Anleihen in Schweden und Dänemark zu erwarten: Mach dir keine Sorgen, liebe:r Bürger:in, wir kümmern uns um deine Vernunft. Ein traurig erfolgreiches Modell, zumindest unter der Prämisse, dass wir tatsächlich das schlaueste Wesen auf dem Planeten sind. Außerdem sind die USA wohl längerfristig in Richtung Protektionismus abgebogen und disqualifizieren sich somit als Vorbild für einen Exportweltmeister wie Deutschland; zumindest beim größten Investitionsprojekt der kommenden Jahre: grüner Technologie, herrscht "america first". Das nützt der heimischen Wirtschaft. Dass Isolationismus und Individualismus sich gut vertragen, hat die USA schon bis in die 1930er hinein bewiesen, daher bezweifle ich, dass die Wirtschaftspolitik in eine Sozialpolitik mündet. Nein, das alte liberale Modell lebt weiter und wird auch hierzulande in den Debatten häufig zitiert werden.

Sehr kurz und knapp erklärt wird das skandinavische vs. das amerikanische Modell hier:


In den hiesigen Breitengraden abgewählt sind die Modelle Russland und China, aber ihre autokratischen Eigenschaften befeuern die Debatte, ob es einen "guten" Staat überhaupt geben kann. Also: Die Arena des Systemskampfs ist gerade erst eröffnet, und 2023 wird ein Jahr sein, in dem Deutschland versuchen wird, sybillinisch einen dritten Weg anzubieten. Allerdings, so glaube ich, erfolglos - die drei Parteien bieten keinen dritten Weg, sondern nur gegenseitige Zerfleischungen dritten Grades. Held ist da keiner in Sicht.

 Der Begriff des Genies: 

Ach, Helden. Brauchen wir sie? Und wer rettet uns vor der Mittelmäßigkeit? Woher kommen gute Erfindungen? Gerade jetzt, Stichwort: Zeitenwende, suchen wir nach einem neuen Vorbild. Bloß wo? Unser Bundeskanzler fällt aus, deutsche Unternehmen fallen aus und Heidi Klum ist auch schon über fünfzig. Aber im Ernst: Wie steht es um den Geniebegriff im 21. Jahrhundert? Entsteht Wegweisendes mit vielen oder von einzelnen? Der Geniebegriff hat im Triumvirat der selbsternannten Genies unserer Zeit (Trump, Putin, Musk) einen echten Leberhaken erhalten. Echte Fortschritte finden statt, aber oft im Schatten. Als Erfolgsmodell in einer komplexen Welt (es gibt einfach zuviel Wissen und Erkenntnisse für den Einzelnen mittlerweile, damn) hat sich, etwa in der Wissenschaft, schon lange die "Coopetition" bewährt, einer auf Wettbewerb ausgelegten Kooperation zwischen einzelnen Expert:innen (gelesen beim Zukunftsinstitut). Das hat den Nachtteil, dass solche Gruppen abstrakter zu greifen sind und sich derohalben schlecht als Genie darstellen lassen. Aber im Licht eines möglicherweise kollektiven Zeitalters passt das wieder, weshalb ich damit rechne, dass es eine weiteren Abbau von Denkmälern gibt, wie es Judith Holofernes von, haha, Wir sind Helden, vor knapp zwanzig Jahren schon gefordert hat. Aber ob holokratische Systeme, oder zumindest Doppelspitzen, deshalb Schule machen? Ich bin mir nicht so sicher. Denn obwohl nichts unwahrer ist, als dass der Bundeskanzler hierzulande "Politik macht", die Welt also von Superindividuen verändert werden kann, brauchen wir die Geschichte vom (gefallenen) Helden, um aus der Gegenwart zu lernen. Und hier bin ich - auch als Storytellerin - skeptisch, dass wir für die großen, wahren Veränderungen auf Kollektive setzen (welche Nachteile das haben kann, zeigte nicht zuletzt die dokumenta dieses Jahr in Kassel). Wir sollten aber mehr Zeit investieren, nach den besten Genies zu fahnden, und das sind üblicherweise nicht die, die sich selbst als solches bezeichnen.


Der Siegesmarsch der KI und Automatisierung: 

Wenn ich der Bild-KI "Dream" sage, mal eine Frau in Gouache, die sich mit einer KI unterhält, kommt das dabei raus. Dream ist für mich die stil-reichste KI, denn da ich Fantasy und Hyperrealismus nicht mag, fallen die meisten wie Nightcafé weg.

Für vieles unterhalb der Geniegrenze werden wir vermehrt auf die künstliche Intelligenz setzen (müssen), das habe ich in meinem letzten blush & blue-Newsletter im Dezember 22 schon geschrieben. Und mich, nach vielfältiger Beschäftigung zum Thema - Information schlägt Bauch bei neuen Themen, IMMER! - davon verabschiedet, einer Retro-Bargeld-ist-schön-und-Handy-des-Teufels-Welt anzuhängen. Denn Künstliche Intelligenz in Zeiten von Informationsüberflutung und Fake News ist: saupraktisch. Wenn und wenn und wenn, ja, aber trotzdem: Die KI-en sind mittlerweile wirklich gut darin, Gespräche mit Erkenntniswert zu produzieren, sie sind unterhaltsam und wissen einfach mal viel mehr als man selbst. Nach dem Tod der Lexika stirbt als nächstes die Suchmaschine. Nicht 2023. Aber 2023 wird ein Jahr werden, in der wir KI privat wie beruflich mutiger einsetzen.

Gerade, weil sie auch so saudumm sein kann, hat die Künstliche Intelligenz als amorphes Wesen eine Cutyness, der wir uns schwer entziehen können. Denn anders als der Kumpel, der einen zulabert, ist eine KI niemals beleidigt, wenn man ihr sagt, wie dumm sie ist. Sie wird nicht müde, dieselbe Frage 1 Million Mal zu beantworten (Kundensupport) und ist nicht faul, sich stets weiterzubilden. Eine Welt, die geprägt ist von KI, ist hoffentlich auch befreit von dämlichen Lernkonzepten, weil Hausaufgaben/Hausarbeiten dann Aufgabe der neuen Taschen-KI werden. Wie der mündige Bürger, die mündige Bürgerin von morgen aussieht, das muss also politisch dringend verhandelt werden. Ebenso wie kluge (!) Regularien, die die KI lassen und doch einhegen, zu entwickeln. ... Ach, am Ende entwickelt die KI ihre Regeln möglicherweise auch einfach selbst. Oder einen globalen Code of Conduct. Oder Maßnahmen gegen Diskriminierung. Das ist Zukunftsmusik, aber nicht so unwahrscheinlich wie Retro-ianer jetzt denken mögen. Gehen Sie zu ChatGTP und stellen Sie mal Fragen, die sie sonst Google stellen --- viel Spaß!


Die Frage nach der echten Veränderungsbereitschaft

Machen wir uns nichts vor: Lösungen wählen wir üblicherweise nach unseren Überzeugungen. Denn die Lösung, die in unser Denkschema passt, klingt einfach stimmiger. Fakt ist aber, dass der beste Lösungspfad allein der ist, der die Umstände berücksichtigt. Etwa: Bei Nachhaltigkeit als politischem und gesellschaftlichem Megaziel tut sich insbesondere die "Gen X" schwer. Nicht, weil Nachhaltigkeit nicht sinnvoll wäre, viele haben sich über die Jahre ein erkleckerliches Maß an Nachhaltigkeit selbst angeschafft, ihren eigenen Materialismus überwunden. Und weil diese Gruppe die sind, die nun/bald am Hebel sitzen, als erste emanzipierte Gruppe, die beim Wort Feminismus nicht aus dem Fenster springt, weil sie in der Masse Erfolg hatten, weil sie die Wohlstandsgewinner sind, hart arbeitende Aufsteiger, aber auch mit Fieber zur Arbeit gehen, halten sie sich für vernünftig. Stimmt nicht!, sagt die Letzte Generation, und das auf so uncharmante Weise, dass die höflichen Gen X-ler gar nicht wissen, ob Ignoranz oder Erregung nun die bessere Antwort sei.

Tja.  A propos "Tja", einer der schönsten Tweets dazu:


 Das Ablaufdatum der eigenen Themen zu akzeptieren, die Lücken in der Beweisführung, das ist hartes Brot. Die Gen X ist ja auch noch nicht 70! Und keine Sorge: Es wird auch der Letzten Generation passieren. Aber bis dahin werden sie einiges verändert haben, und wer bei Debatten um "kulturelle Aneigung" oder "Tempolimit" nur trotzig reagiert, könnte eines Tages feststellen, dass das eigene Denkschema nur noch mit Phrasen umschrieben werden kann, die aus der rechten Vorhölle kamen. Was man gewiss nicht wollte. Wer also nicht mit stolzer Brust "konservativ" (im Sinne der Bewahrung des Alten, komme, was wolle) ist, sollte in seinen Überzeugungen noch einmal etwas tiefer graben und sich fragen, ob diese oder jene nicht wegkann, weil das Ur-Versprechen eingelöst ist, und der neue, frische Geist bereits drei Ecken weiter. Dann passen auch die Lösungen wieder besser.

Und was denken Sie, was 2023 prägend wird?

Herzlich,

Ihre Anja Mutschler

P.S. Über die Frage, ob Putin 2023 aufhören wird, die Ukraine zu beschießen, kann ich nichts sagen. Wollen tut er es nicht, und ob er es bald muss, wissen nur ominös gut informierte Kreise, denen ich nicht angehöre. Da die mediale Berichterstattung an diesem Punkt nicht wahrhaftig sein kann, folge ich kundigen Leuten auf Twitter und warte ab.

P.P.S. Über die Frage, ob Twitter ein Zombie wird und das Fediverse siegt, möchte ich nur folgendes sagen: Das Internet ist nicht idealistisch. Eher kommt eine nice Twitter-Alternative als der Siegeszug von Mastodon & Co. Aber hier möchte ich mich ganz gerne irren.

Photo by Planet Volumes on Unsplash


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