Über Mut

Was ist Mut? Und auf welchen kommt es an? Früher dachte ich darüber anders als heute. Und gerade jetzt ist er so wichtig wie teuer. Ein übermütiger Text über Mut zum Jahresausklang.
Guter Mut ist teuer dieser Tage. Und, oh: Beim Schreiben merke ich, was für ein schweres Thema Mut ist. Nicht, weil es schwer ist, über Mut zu sprechen. Sondern, weil es verdammt schnell ins Pastorale geht. Diese verknieste Witzigkeit der erdigen Philosophie ohne Fußnoten, die geht mir leider immer leichter von der Hand. Mein penetranter Genuss von guten/schlechten Internetwitzen/Memes färbt ab. Wenn es nach meinen Kindern geht, bin ich ein eigenes Meme geworden ("funny" middle aged female person (she/her), younger than a Karen but awkward in all sense of meaning). Alias mittelalte Schachtel.

Früher wollte ich an manchen Tagen einfach nur anonym billige Sexgeschichten schreiben, heute scheint mir, dass ich dem freien Prediger spontan und wahllos Manuskripte auf den schmärigen Bauch pinseln könnte, jederzeit und zu jedem Thema. Beides tue ich nicht, und beides wäre je nach Sichtweise mutig oder peinlich. (Ich weiß nicht, warum ich den Prediger nicht gegendert habe, aber gerade läuft es mit dem assoziativen Schreiben, also lass ich das so. Habe ich schon gesagt, dass ich Einschübe liebe?)

Es soll hier NICHT um den Mut gehen, Sexgeschichten zu schreiben, auch wenn meine sicher lustig wären. Wenn ich - haha, Wortwitz - "Über Mut" schreibe, dann meine ich den alltäglichen Mut, es immer wieder anzugehen. Heiter, idealerweise.

Ist doch so! Sie wissen, was ich meine. Zumindest, wenn Sie 40 oder älter sind, oder auch jünger. Vielleicht hat Sie die unerklärliche Verzagtheit schon früh(er) im Leben ergriffen. Vielleicht wissen Sie auch gar nicht, was ich meine, weil Ihnen dieser Mut, die Fähigkeit, dran zu bleiben, nicht mit in die Wiege gelegt worden ist. Dort kommt er meines Erachtens nämlich her, der Mut ist dabei im Geburtsgepäck oder nicht. Anders kann ich mir nicht erklären, warum manche Menschen sich weigern, im heiteren Verdruss "die Sache wieder anzugehen". 

Die Sache kann alles sein: Hausaufgaben, Hausarbeit, Arbeit generell, Liebe, die Gesellschaft als solches und die Welt als Ganzes. Gerade, wer die Welt zum Spiegel seiner Selbstfindung gewählt hat, hatte es - generell immer schon, aber insbesondere - in den letzten drei Jahren schwer. Was hat "die Welt", vulgo: "die Politiker und andere Entscheidungsspackos" nicht alles verbockt. Wobei, verbockt, wäre schön, nein, einen geheimen Plan, so liest man häufiger, hätten "die da oben" mit den Ahnungslosen. Aber ich, so sagen sie, ich, ich habs durchschaut. "Man kann das lesen, wenn man nur will", raunen sie und finden sich mutig. Wie man von dort zu Echsen kommt, habe ich zwar immer noch nicht verstanden (obwohl mir seit diesem Beitrag von Christian Stöcker immerhin klarer ist, was 4chan mit QAnon zu tun hat), aber wahrscheinlich passiert das, wenn aus dem Mut (die Welt zu einem besseren Ort zu machen) die Wut (auf die mit dem besseren Ort auf der Welt) wird. Und Echsen (wider-)sprechen nicht.

Das Leben wiederum, wenn man versucht, es zu einem einigermaßen runden Dasein zu entwickeln, also ohne Generalverzicht einerseits und Überfluss/druss andererseits zurande zu kommen und ein "vita activa" zu führen, in dem die psychologisch wichtigen Aspekte der Wirksamkeit und Selbstfürsorge so austariert sind, dass man sich beim Anspannen konzentrieren und beim Entspannen entfalten kann (schwer genug!!!), dieses Leben bedarf viel Mut. Alltäglich.

Glücklicherweise gibt es Tabus, die es einfacher machen, nicht darüber nachzudenken, ob man noch einen Tag länger darauf setzt, dass es sich am Ende auszahlen wird, gelohnt hat, ausgeht; all das Tun und Wirbeln und Wäscheauf- und wieder Abhängen, den Wecker nicht ignorieren, vor dem Meeting die Haare kämmen, zur Nervensäge ausdauernd freundlich bleiben, Treppe statt Aufzug, nicht einfach mit dem Freund der Freundin durchbrennen (keine wahre Geschichte!!!) und irgendwo neu anfangen, eh, alles hinter sich zu lassen, weil es in der Bilanz der Mistigkeiten gerade eher so semi aussieht, orange und pink zu kombinieren, breitbeinig mit zu kurzem Rock in der Straßenbahn zu sitzen, einfach, weil mans kann, oder rumschreien statt argumentieren. Ist doch wahr!

Zugegeben, manches der beschriebenen Dinge waren eher Konvention als Tabu, natürlich könnte ich DIESER PERSON und JENER die Meinung geigen und jeden Tag eine Torte essen, aber dann hätten wir wieder das Problem mit dem runden Dasein (ok, rund wäre es, aber halt nur in einer Hinsicht).

Das große Tabu, das hinter all diesen Dingen, die man dann doch nicht tut, steckt, ist das Tabu der Selbstentfernung. Ich meine, den Alltag, den man sich selbst eingebrockt hat, zu verlassen.  Sei es Lebenszeitverlust durch verfrühtes Ableben, weil jeden Tag die Torte, Sie wissen schon ... oder Komfortverlust durch Arbeitslosigkeit, weil dauerhaft versifft zu Meetings zu kommen, ja, genau ... oder Identitätsverlust durch offensichtliche Sauereien, denn,  nun ja .... (Obacht!: Betonung auf offensichtlich. Erfolgreiche Menschen sind nicht selten Meister der heimlichen Schweinerei und vermögen es, ihre moralische Verlotterung lustvoll auszukosten. (Fragen Sie mich bitte nicht, warum und woher ich sie kenne!). Aber just die erfolgreichen Swinies sind Tabu-Fetischisten, sie wissen haargenau, wie weit sie gehen können, ohne sich aus ihrem angerichteten Dasein (Familie, Job, Verpflichtungen) entfernen zu müssen. Passen Sie also auf, wenn Ihnen ein "wertkonservativer" Mensch mit festen Schranken begegnet; falls Sie das moralische Doppelspiel nicht gewohnt sind, drohen Missverständnisse. Mein feministischer Gräuel auf alte, weiße Männer hängt auch damit zusammen, dass ich den exklusiven Zugriff auf diese beiden Lebensformen, erfolgreich nach außen, bacchantisch nach innen, neide. Zumal sie die Tabus mit ihrer "weiß gar nicht, was ihr habt, geht doch alles, hä?"-Haltung auch noch aufrecht erhalten - ist das zu fassen???)

(Das war jetzt durchaus mutig in Anbetracht der Tatsache, dass ich es mir lieber mit weißen, alten Männern, die humorfrei auf diese Fremdbezeichnung reagieren, verscherze als mit aufrechten Emanzen. Aber die schiere Lebensfreude, die im gemachten Bett des Etablierten liegt, der so viel mehr Ressourcen hat, um das Anstrengende kurz und das Angenehme lang zu halten, neide ich halt. Ich will mehr vom Kuchen, und das heißt nicht, dass ich moralisch sauberer sein will.))

Wo war ich? Ach ja, beim Tabu der Selbstentfernung. Sich selbst aus dem Spiel zu nehmen, das das Schicksal - oder auch eine Zahl halbkluger Entscheidungen, die wir, geben wir es doch zu, hinternach oft anders getroffen hätten - einem zugeteilt hat. Kenne nur ich derzeit viele, die davon träumen? Das zähe Stück Leben mit oder ohne Kind/Beziehung/Familie, einfach loswerden. Aber: Das ist schlicht nicht drin, wenn sie gleichzeitig befreundet bleiben wollen, zu Familienfesten gehen wollen oder in Frieden leben. Ich für meinen Teil frage mich, ob das überhaupt geht. Klar, ich bewundere die Leute, die die Zelte abbrechen, um sie woanders wieder aufzubauen. Auf den ersten Blick. Und natürlich überlege ich bei jedem Urlaub, bleib ich einfach hier. Bis mir wieder ein Expat begegnet, der sich lediglich als Geflohener darstellt und dessen Lebensthemen, fernab vom Schuss, etwas eintönig geworden sind zwischen Südfrüchten und Yogamatte. Pardon. 

Also fährt man wieder heim aus seinen teuer bezahlten Urlauben, erholt sich von den Visionen, und schlürt es weiter, dieses endlose Gefühl des anderen Lebens, das parallel zu einem abläuft, durch das man aber nicht kann. Ich zum Beispiel habe neulich wieder ein Bild "von früher" gesehen, wie viele Frauen war ich - Biologie! - früher schöner, wusste es aber nicht. Hormone und Hoffnung strahlten aus meinen Augen, der Schabernack, mit dem ich mein Schicksal austrickste, sprach aus meinen Augen. Aber meine Entscheidungen damals? Fast alle falsch. Und warum? Weil ich gehofft habe. Und dachte, das sei Mut. 

Dabei ist es genau andersherum. Erst, wenn man die Hoffnung fahren lässt (Geräusch frei wählen), die Hoffnungslosigkeit anerkennt, weiß, dass man nicht weglaufen kann, die besten Geschichten immer bei den anderen entstehen (trösten Sie sich, Sie sind wahrscheinlich woanders auch die "bessere" Story), und man NICHT aufgibt, TROTZDEM weitermacht, WIEDER aufsteht, WIDERSTEHT, am besten mit Heiterkeit, dann kommen wir dem Leben nahe, das ist. Und das finde ich, verdammt noch mal, sehr mutig. 

Von Ihnen, mir, allen. 

Also, auf alle, die weiter machen. Kommen Sie gut ins neue Jahr.

P.S. Dass ich immer weiterschreibe, ist diesbezüglich auch purer Über Mut.

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